Eine softwaregestützte Auswertung von Fotos des Augenhintergrunds kann das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen mindestens so gut vorhersagen wie der „Framingham Risk Score“, ein Standardinstrument in der Kardiologie. Dies zeigen die Ergebnisse aus zwei prospektiven Beobachtungsstudien im British Journal of Ophthalmology (2022; DOI: 10.1136/bjophthalmol-2022-321842).
Der Augenhintergrund ist der einzige Ort des menschlichen Körpers, an dem Arterien und Venen direkt sicht¬bar sind und auf nicht-invasive Weise untersucht werden können. Veränderungen im Kaliber der Arteriolen und Venolen, Kompression von Venen durch arteriosklerotisch verhärtete Arteriolen (Kreuzungszeichen) oder eine auffällige Schlängelung (Tortuositas) der Gefäße zeigen eine fortgeschrittene Schädigung des Gefäßsystems an.
Diese Erkenntnisse sind nicht neu! Früher gehörte die Spiegelung des Augenhintergrunds zur Standarduntersuchung auch bei Herzspezialisten, um das kardiovaskuläre Risiko einzuschätzen. In der Praxis geschieht dies heutzutage selten, da die genaue Inspektion des Fundus zeitaufwändig ist und der Augenarzt sein Ergebnis nicht in einem numerischen Score zusammenfassen kann, der wie der „Framingham Risk Score“ das 10-Jahres-Risiko des Patienten in einer Zahl angibt.
Die softwaregestützte Auswertung der Augenspiegelung (im medizinischen Fachbegriff Funduskopie) könnte dies in Zukunft ändern. Die Arbeitszeit eines Computers ist kein Kostenfaktor und die Algorithmen sind in der Lage, das Ergebnis ihrer Untersuchung in einer konkreten Risikovorhersage zusammenzufassen.
Mitarbeiter der St George’s University in London haben Funduskopien von 88.052 Erwachsenen im Alter von 40 bis 69 Jahren mit einer speziellen Software auswerten lassen.
Die künstliche Intelligenz verglich die Verlaufsmuster und Größen der Gefäße mit den klinischen Daten zu späteren Herzinfarkten, Schlaganfällen und kardiovaskulären Todesfällen. Das Ergebnis war der Algorithmus QUARTZ („QUantitative Analysis of Retina vasculature Topology and siZe“), der Vorhersagen zum kardiovas¬kulären Sterberisiko erlaubt.
Die Ergebnisse zeigen, dass QUARTZ bei der Sensitivität und Spezifität Werte von 0,75 bis 0,77 erzielt. Dies ist zwar noch weit von einer sicheren Vorhersage (Wert 1,0) entfernt. Die Soft-ware kann sich aber mit dem „Framingham Risk Score“ messen, der in etwa dieselben Werte erzielte.
Bei den am meisten gefährdeten Personen erreichte der “Framingham Risk Score“ die besseren Vorhersage¬werte. Wenn QUARTZ zusätzlich Daten zu Alter, Geschlecht, Raucherstatus und Vorerkrankungen verwenden konnte, war er dem “Framingham Risk Score“ jedoch in allen Punkten überlegen.
Die Autoren schlussfolgern, dass die software-gestützte Funduskopie mit deren QUARTZ-Algorithmus, die im Gegensatz zum „Framing¬ham Risk Score“ eine kardiovaskuläre Risikoabschätzung ohne Messung des Blutdrucks und ohne Ent¬nahme einer Blutprobe ermöglicht, in Zukunft ein wichtiges zusätzliches Instrument für behandelnde Ärzte darstellen könnte.
Die Studien untermauern, was schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts erforscht wird. Die Gefäßsituation am Augenhintergrund spiegelt das kardiovaskuläre Risiko wider.
Quelle: Deutsches ÄRZTEBLATT / aerzteblatt.de